Ein Projekt im Rahmen der Ausstellung ‚Silent Works. The Hidden Labor in AI-Capitalism‘, aufgrund des Lockdowns nun als Berliner Gazette Winter School 2020, Haus der Statistik, Berlin, 7. bis 28. November 2020.
Mapping along Amazon (→ English version)
In und um Berlin breiten sich die Ausliefer-Zentren des Internet-basierten Versanddienstleisters Amazon immer weiter aus. Südlich der Stadt wurde kürzlich BER8 eröffnet, gleich beim Autobahnkreuz Schönefeld zwischen Flughafen, Cottbus, Polen und Potsdam, in einem bislang nur schwer über dörfliche Landstraßen zu erreichenden Gelände. Auf einem Acker steht eine große, umzäunte und mit einer Art Wassergraben wie eine Burgfestung abgesicherte Logistikhalle. Vor der Einfahrt, aber auch schon weit davor, auf Autobahnraststätten, warten LKW-Zugmaschinen mit polnischen und baltischen Kennzeichen, um ihre blauen Amazon-Prime-Anhänger mit Krefelder Nummernschildern zum Entladen abzuliefern, oder neu gefüllte Anhänger abzuholen.
Ein junger ukrainischer Fahrer kam am Vorabend an, kocht sich nun das Mittagessen am Straßenrand, und wartet bis zum Abend, um Waren anzunehmen und diese dann nach Paris, Mannheim und Krefeld zu transportieren. Einsatzpläne und Wegeänderungen werden ihm von seinem Auftraggeber in Litauen, wo er auch ein Euro-Konto führt, per Mail und Mobiltelefon durchgegeben.
Ein Auftragnehmer von Amazon baut gerade eine technische Schleuse an der Ausfahrt auf und würde nie bei dem Konzern, sondern nur in kleinen Läden kaufen. Auch er versteht nicht, welche Wege hier die Waren nehmen, kreuz und quer durch Europa, und dies alles von Arbeitskräften, die von weit her angeheuert worden sind. Ein Schild wirbt für drei weitere Logistikfelder, die auf dem zugewucherten Acker neben der Amazon-Halle entstehen sollen. In der Ferne überragt ein Ikea-Logo die Felder.
Die logistischen Landschaften sind miteinander verkoppelt. In einem beengten Gewerbegebiet in Marienfelde zwängen sich Trucks durch ein Sträßchen zwischen Schrebergärten und einem Parkhaus. Sie entladen ihre Waren in eine große und von außen nicht einsehbare Box. Auf deren Rückseite stehen – ameisengleich – hunderte weiße Lieferwägen und PKWs. Männer mit Migrationshintergrund laden die Waren aus den Lieferkarren in die meist privat gemieteten Fahrzeuge, um dann ins Berliner Stadtgebiet auszuschwärmen.
In den Krausehöfen in der Mitte Berlins weist ein winziges Schild darauf hin, dass hier Amazon Berlin residiert. Ein Zeitungsartikel berichtet, dass in dem massiven Gebäude ca. 500 Personen arbeiten sollen. Wachschützer kontrollieren den Eingang, ein Kamera-Auge ist neben der Klingel angebracht.
Digital goes Betongold
Unter dem Stichwort ‚Tech-Urbanismus’ wird der Verwertungszusammenhang von Tech und Stadt verzeichnet. Dieser materialisiert sich in Form von Gebäuden, Verdrängung, Geschäftsmodellen, Daten-Staubsaugern oder „bullshit jobs“ (David Graeber).
Erst treibt Online-Shopping die Läden in den Ruin, dann übernimmt er auch noch die Gebäude: Ein Amazon-Prime-Lager zur Auslieferung im Stundentakt wurde in einem ehemaligen Elektro-Supermarkt am Berliner Ku‘Damm eingerichtet, und in den USA okkupiert Amazon sogenannte dead malls. Der Konzern wandelt diese überflüssig geworden Shoppingareale zu verkehrsgünstig gelegenen ‚Fulfillment-Centern’ für die Auslieferung online bestellter Waren um. In dem als historische Ikone angesehenen Karstadt-Warenhaus am Hermannplatz in Berlin-Neukölln soll gegen den heftigen Widerstand der Anwohner*innen ein Hybrid aus Shop-in-Shop, Amazon-Logistiklager, Co-Working Spaces, Re-Use-Center und Wohnflächen entstehen. Zugleich gründet der Amazon-Konzern eine Ladenkette, in der man ohne Personal und bei genauester digitaler Verfolgung der Warenentnahme seine Lebensmittel „seamless“ (naht- und kassenlos) einkaufen kann.
Tech-Lash
Gegen die Tech-Industrie macht sich vermehrt Widerstand breit; sei es erfolgreich gegen die Amazon-HQ2 genannte zweite Zentrale in New York oder aktuell gegen den ‚Google-Campus’ und die Zalando-Niederlassung in Berlin-Kreuzberg sowie den ‚Amazon-Tower’ in Berlin-Friedrichshain als Teil des ‚Mediaspree’-Konzepts. Berliner Aktivist*innen beziehen sich dabei auf die urbanen Spaltungen in der Bay Area rund um San Francisco und das Silicon Valley, die viele Bewohner*innen der Technopolis im doppelten Sinne auf die Straße drängen. Die Kampagne Berlin vs. Amazon versucht nicht nur, den an der Warschauer Brücke geplanten ‚Amazon-Tower’ zu verhindern, sondern auch die Kämpfe der Techworker mit dem Widerstand gegen die sich durch die Raumexpansion der Tech-Konzerne beschleunigende Gentrifizierung zusammenzuführen.
Die Techworker’s Coalition versammelt von Programmierer*innen bis zu Picker*innen in den ‚Fulfillment Centern’ am Rande der Metropolen alle Klassen von Techies, und dazu gehören auch die Fahrrad-Auslieferdienste. Innerhalb der Kampagne Berlin vs. Amazon arbeiten viele selbst im IT-Bereich und argumentieren mit ihrem Wissen auch von innen heraus. Über Make Amazon Pay hat die Initiative Kontakte zu Amazon-Arbeiter*innen in den Lagern von Leipzig und Bad Hersfeld aufgebaut. Die Verbindungen gehen bis nach Poznan. Gerade in Polen arbeiten ca. 20.000 Leute bei Amazon, meist in prekären Zeitarbeitsverträgen. Allerdings kann man in Polen gar nicht bei Amazon bestellen. Das heißt, dass diese Arbeiter*innen dafür eingesetzt werden, gegen Streiks oder Staus den deutschen Markt zu beliefern.
Umschleichen
Wir sind zu zweit mit dem Auto unterwegs, aber über WhatsApp im Sprachnachrichten-Kontakt mit dem homeoffice in Mecklenburg. Dort werden nach den Erzählungen und Beschreibungen die Zeichnungen zu unserer Erkundungsfahrt angefertigt. So entsteht aus Soundfiles, Fotografien, Kartierungen und Erinnerungen ein ‚Mapping along Amazon’.
Siehe auch den in der Ausstellung ausliegenden Leporello zur Installation.
Jochen Becker, Christian Hanussek, Diana Lucas-Drogan, Kathrin Wildner für metroZones – Zentrum für städtische Angelegenheiten
Auch bei Silent Works: Benjamin Heisenberg (Schweiz), Diego de la Vega Coffee Co-op (Mexiko/US), eeefff (Weissrussland/Russland), Giorgi Gago Gagoshidze (Georgien), Into the Black Box (Italien), Melanie Gilligan (Kanada), NoCyberValley (Deutschland), oddviz (Türkei), Peng! (Deutschland), Petero Kalulé (Uganda/Vereinigtes Königreich) / AM Kanngieser (Australien), Shinseungback Kimyonghun (Südkorea), Tekla Aslanishvili (Georgien) und University of the Phoenix (Kanada).